BOOM (eine Ulf-Story)

Als es rumst, drehen sie hastig ihre Köpfe Richtung Tür. "Schon wieder“, sagt Frau Kästrich. „Die sind ja auf einmal wie von Sinnen.“ 

Eine junge Frau ist vor das Glas gerannt, drückt ihre scheinbar heilende Hand gegen die Stirn und lässt dabei die Augen wie die Leuchte eines Kopierers über das staubbefleckte Glas fahren. Dann startet sie einen neuen Versuch, greift nach dem meterlangen Messinggriff und rüttelt. 

Ulf zeigt auf den handgeschriebenen Zettel, der – das weiß er ganz genau – von außen gut zu lesen ist. Mittagspause von 13:00 Uhr bis 14:00 Uhr steht darauf. Fünf vor zwei, sagt ihm der Blick auf seine Armbanduhr, ein Examensgeschenk von seinem Vater, dem Doktor, als der noch glaubte, Ulf würde seine Praxis übernehmen. Sie mochte alt sein, doch sie funktionierte einwandfrei. Kein Irrtum möglich. Fünf vor. Die jungen Leute respektieren einfach keine Pausen mehr, ärgert er sich. Außer vielleicht ihre eigenen. Das Wort chillen geht ihm durch den Kopf. Als ob es beim Ausruhen kalt ist. 

Frau Kästrich hat natürlich keine Ahnung von seinen selbstunterhaltenden Gedanken. „Warum grinsen sie denn so schelmisch?“, wundert sie sich und humpelt noch einmal durch den staubig orange-braunen Vorhang in das kleine Hinterzimmer. Eine angelaufene Kaffeemaschine behauptet, Küche zu sein. Diverse Papierstapel auf dem wachstuchbedeckten Tisch halten sich für ein Büro. „Der Umsatz ist in der vergangen Woche um 73 Prozent gestiegen“, ruft sie von hinten. In ihren Dimensionen sind das zehn oder zwölf zusätzliche Käuferinnen am Tag.

Auch wenn seine Chefin noch eine sehr kräftige, vor allem tiefe Stimme hat, hört Ulf die Skepsis darin. Lass sie zweifeln, denkt er. Sie muss nicht erfahren, dass der plötzliche Ansturm auf ihren Buchladen die Konsequenz eines Verbrechens ist.  

Als sie sich kurz danach mitsamt ihrem Hüftschaden Richtung Tür bewegt, scheinen die 73 Prozent vergessen zu sein. Ulf kontrolliert sein Handgelenk. Exakt 14:00 Uhr. Er ist zufrieden. 

Die Kundin tut, als hätte es ihren Stirn-Glas-Zusammenstoß nicht gegeben und möchte „was Altes. Vielleicht von Jane Eyre oder wie die heißt.“

„Über Jane Eyre“, korrigiert Ulf, „das Buch trägt nur den Untertitel ‚Eine Autobiographie‘. Geschrieben hat es Charlotte Brontë.“

Die junge Frau, in seinen Augen fast noch ein Mädchen, plündert ihr komplettes mimisches und gestisches Potenzial, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie sich bevormundet fühlt. 

Er sieht über die Ungezogenheit hinweg und nimmt ihr Geld entgegen. 

„Warum kaufen diese jungen Dinger auf einmal unsere Klassiker?“, wundert sich Frau Kästrich, nachdem Jane Eyre mit deutlichen Quetschspuren von einer viel zu kleinen Handtasche den Laden verlassen hat. „Da haben die sich doch bis vor Kurzem nicht für interessiert.“ Ihr Ausdruck wechselt von fragend zu streng. „Und für sie auch nicht. Lassen sie ja die Finger davon. Die sind zu jung für sie!“ 

„Für mich sind sie vor allem zu weiblich, das wissen sie doch, Frau Kästrich“. 

Seine Chefin glaubt nach wie vor, dass das eine Art Schutzbehauptung ist. Für sie sind die meisten Schwulen getarnte Heterosexuelle. 

Ulf sieht, wie sich zwei weitere Kundinnen dem Laden nähern. Ihre Blicke springen zwischen Smartphone und Schaufenster hin und her. Wieder und wieder versuchen sie, das, was sie auf dem Bildschirm sehen, im dunklen Laden zu entdecken. Zwanzigjährige, die glauben, dass sich die physikalischen Gesetze der Reflexion auflösen, wenn man es nur häufig genug versucht. Nun ja, sie sind nicht die einzigen jungen Leute, über die Ulf sich in den vergangenen zwei Wochen wundern musste. 

 

Die seit Jahren erste Kundin dieser Altersklasse konnte die Tür zumindest ohne Brimborium aufmachen. Ulf benutzt ihren Namen bis heute nicht, weil er ihn lediglich für den Versuch hält, originell zu alliterieren, und bezweifelt, dass er in ihrem Pass steht. 

Sie sei Buchbloggerin, Lisa von Lisa liest. Als ob Lisa liest das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sei. Er solle ihr bitte was Altes empfehlen. Ruhig ein bisschen brutal. Oder mystisch. Regional gehe auch immer gut. Oder Krimis mit weiblichen Ermittlern. 

„Also Ermittlerinnen.“   

Lachend fummelt sie ihm mit ihren Fingern vorm Gesicht rum. „Check!“

Ulf hulft, denkt er, Ulf hulft, Ulf hulft. Genug Us. Grinsend sucht er drei Klassiker ohne raus: Jane Eyre, Effi Briest und Mrs. Dalloway. Manchmal macht er sich die Beratung gern etwas schwieriger.

Sie klemmt sich seine drei Empfehlungen, die außer, dass sie alt sind, nicht dem entsprechen, was sie gefordert hat, unter den Arm und dreht sich mit ausgeschmückten Danksagungen für die echt interessante Beratung zur Tür. 

„Halt, junge Frau, so haben wir nicht gewettet. Sie müssen noch bezahlen.“

„Ich bin Buchbloggerin.“

„Wir verkaufen Bücher.“

„Ich nenne ihren Laden in meinem Blog.“

„Das ist erstens nicht mein Laden, sondern der von Frau Kästrich, und zweitens können sie doch wohl nicht einfach über uns schreiben.“

Sie ist sprachlos.

„38,70 Euro bekomme ich von ihnen.“

Sie zieht eine Schnute, knipst mit dem Handy hoffentlich nur sich und die drei Bücher und holt ihre Geldbörse raus. „Haben sie noch nie was von Marketing gehört?“

Ein Grund, warum er so gerne für Frau Kästrich arbeitet, ist, dass sie viel von Kenntnisreichtum, aber nichts von Reklame hält. 

Bevor er antworten kann, wundert sich Lisa von Lisa liest bereits weiter: „Lesen sie keine Bücherblogs?“

„Ich habe nicht mal Internet.“ Das ist gelogen. Er verschickt manchmal E-Mails. Und er lügt nicht gerne. Zum Glück klingelt in dem Augenblick sein Handy. Na, den Moment hätte ein Schriftsteller nicht passender erfinden können, denkt er.  

„Nice! Darf ich mal?“ Die junge Frau streckt ihre Hand nach dem unmodernen Gerät aus. Wohlwollend reagiert er auf ihr Interesse.  

 

Ulf zuckt zusammen, wird mitten aus seiner Erinnerung gerissen, weil eine vor ihm stehende Kundin in die Hände klatscht. „Oh, Entschuldigung. Ich war in Gedanken.“ Er behält für sich, dass ein Räuspern oder ein Aufmerksamkeit erzeugendes Wort genügt hätte, sondern lässt sich kurzzeitig von ihrem Äußeren überwältigen. Ei der Daus, sie trägt einen Schnäuzer. Er würde gern erfahren, wie lange es gedauert hat, seine, Schrägstrich, ihre Augen so dreifarbig anzumalen. „Was Altes?“, fragt er stattdessen. Im Bewusstsein, dass diese Schrägstriche in seinen Gedanken schräg sind – hier muss er grinsen - bietet er ihm, Schrägstrich, ihr Was ihr wollt an. Mehr fällt ihm spontan nicht ein, was er als gehöriges Manko empfindet. 

„Endlich mal jemand, der mir nicht Middlesex verkaufen will.“

Ulf lacht den bunten Menschen vor sich erleichtert an. 

„Übrigens können sie einfach fragen“, sagt der Mensch. „Ich für meinen Fall werde am liebsten mit er angeredet.“

„Können sie Gedanken lesen?“

„Nein. Middlesex und er oder sie überlegt einfach jeder.“

Das Wort jeder schmerzt Ulf. Er hält sich für besser. Zum Glück ist morgen Mittwoch, da hat er Zeit nachzudenken. 

 

Der Tag, nachdem Lisa von Lisa liest aufgetaucht ist, ist ebenfalls ein Mittwoch gewesen. Ulf hat mittwochs frei und daran wird auch eine Umsatzsteigerung von 73 Prozent nichts ändern. Am liebsten sitzt er dann auf dem Balkon und liest. Oder raucht. Oder beobachtet die Pflanzen. Immer oder, niemals und. Gleichzeitigkeit schwächt den Moment, findet er. Gerade blühen die Pimpinellen. Hin und wieder streut er sich ein paar Blätter in den Salat.   

 

Donnerstags wischt er immer Staub, denn eine Buchhandlung zieht unterschiedliche Stäube an wie ein Magnet Nickel, Eisen und Kobalt. Frau Kästrich hat dafür leider keine Auge. Und sie verwechselt den Geruch von Staub mit dem von Büchern, hält ihn sogar für Atmosphäre. Ulf findet es herrlich, dass eine Frau ihrer Generation sich das leistet. 

Wenn eine seiner Stammkundinnen kommt, legt er den Wedel beiseite und beginnt einen Plausch. Diese Damen sind der Grund, warum er hier arbeitet. Sie sind so interessant wie die Patienten damals in seiner Facharztausbildung, aber wollen nicht geheilt werden. Das hält er für gesünder. Er mag Skurrilitäten. 

 

Freitags blättert Ulf durch die neuen Bücher der Woche. Kein Mensch kann die alle studieren, doch Klappentext und zehn, zwölf Seiten aus der Mitte vermitteln einen ersten Eindruck, eine hinreichende Grundlage für die Entscheidung, was von vorne bis hinten gelesen wird. Am liebsten laut. Und wenn das wegen öffentlicher Zuhörer nicht geht, dann zumindest mit Lippenbewegungen. Das müssen Leute am Nachbartisch aushalten. Wenn er mitkriegt, dass ein paar junge Leute, es sind fast ausschließlich die jungen, sich über ihn lustig machen, spricht er sie an und fragt, ob sie an einer Kontaktaufnahme interessiert sind. 

Für die Bücher, die es nicht auf die Von-vorne-bis-hinten-Liste schaffen, gibt es seine Stammkundinnen. Die referierten ihm die Inhalte so haarklein, dass er nach einigen Tagen vergisst, ob er das Buch selbst gelesen oder nur davon erzählt bekommen hat. 

 

Samstags widmet er sich notgedrungen der für Frau Kästrich allein nicht zu bewältigenden Laufkundschaft vor dem Bestsellerregal, ein beleuchtetes modernes Ding mit vielen roten Aufklebern. Diese fünf oder sieben Meter finanzieren die mit Büchern vollgestopften weiteren hundert aus altem Holz, der Samstag sponsert Montag bis Freitag. Wenn es Ulf gelingt, dass das Geschenk für Freundin, Oma, Bruder oder Nachbarn nach seiner Empfehlung und nicht nach Verkaufszahlen gewählt wird, verbucht er das als einen Höhepunkt. Ansonsten freut er sich, wenn sie die Ladentür pünktlich um 16.00 Uhr absperren und er in Richtung Balkon spazieren kann. 

 

Normalerweise ist der Heimweg frei von Besonderheiten, aber an diesem Samstag, dem Samstag nach dem Dienstag, an dem Lisa von Lisa liest den Laden erstmalig betreten hat, wird Ulf entführt. Zwei Männer schubsen und ziehen ihn in einen Bulli, der ein paar Meter vor ihm neben dem Bürgersteig gehalten hat. Ulf ist kein Typ, der um Hilfe ruft. Er ist es aber auch nicht gewohnt, dass fremde Menschen an ihm herumzerren. Es tut ein bisschen weh. Er ist empört. „Sie haben meinen Hut vergessen“, ist das Erste, was er zu den beiden, die jetzt rechts und links von ihm auf der hinteren Bank sitzen, sagt. 

Sie tragen schwarze FFP2 Masken, Sonnenbrillen und schwarze Mützen, wobei die eine einen wahrnehmbaren Stich ins Anthrazitfarbene hat. 

Ulf ärgert sich, dass sein Hut jetzt auf der Straße liegt. Es war nicht leicht, genau diesen Hut zu finden und er trägt ihn erst seit einem dreiviertel Jahr. Beinahe sagt er: „Entschuldigen Sie, es wäre mir wirklich wichtig, dass mein Hut mitkommt.“ Doch der Kidnapper zu seiner Rechten nimmt sich einen Baseballschläger und haut sich das Ende in regelmäßigem Takt in die Hand. Für eine schablonenhafte Geste, um Angst zu sähen, hält Ulf das. Jetzt noch drei gleichbleibende Töne in Moll und fertig wäre die Szene eines mittelmäßigen Gangsterfilm. Andererseits, was ist, wenn er tatsächlich…?

Ulf kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Angst hatte. Aber das Ziehen im Nacken, den fühlbaren Herzschlag und die zusammengepresste Luft vor seinen Lungen deutet er sofort als Zeichen von Furcht. Er will sich beruhigen, sagt sich, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, ihn zu kidnappen. Seine Eltern sind tot, seine Schwester im Ausland. Keine wohlhabenden Verwandten, denen man eine gesalzene – oder sagt man gepfefferte – Rechnung zustellen könnte. Die müsssen einen anderen meinen. Aber selbst, wenn es so wäre. Es sind doch gerade Fehler, die Menschen unkalkulierbar machen. Oder sogar unzurechnungsfähig. Ärger über eigene Unzulänglichkeiten und der Wunsch zu vertuschen, sind rationalem Verhalten nicht gerade förderlich. 

Ulf ermahnt sich, gleichmäßig zu atmen und überlegt, wie er unverfänglich ins Gespräch kommen kann, als der Mann auf der rechten Seite ihn auffordert, noch einmal zu sagen, dass sie seinen Hut vergessen haben. Erstaunlich. Nahezu verrückt. Das Sicherste wird sein, sich nichts anmerken zu lassen und zu tun, was er verlangt . 

„Hast du das?“ 

Eine weitere Person, die auf einem Klappsitz Rücken an Rücken mit dem Fahrer sitzt, nickt. Anscheinend eine Frau, sie hat ihn mit der Rückseite ihres Handys im Visier wie ein Verfolgerscheinwerfer den Star auf einer Bühne.   

„Die Nummer läuft“, sagt der Mann zu seiner Linken und lehnt sich zurück. 

Auch in Ulf beginnen die Verspannungen, sich schnell wieder zu entkutzeln. Er zählt zwei und zwei zusammen und ist sich sicher. Keine ernsthafte Gefahr. Die Filmerei, er als unpassendes Opfer, Alltagsmasken, Kleinkriminellen-Klischees. Das sind keine echten Entführer, das sind irgendwelche Internet-Heinis, Freunde von Lisa liest, die irgendeinen Quatsch für Facebook oder so etwas drehen. Auch wenn er solche Medien und Filme nicht konsumiert - er lebt nicht hinterm Mond und weiß, dass Leute viel, oft auch zu viel, Aufwand betreiben, um Beachtung zu finden. Seine Mitreisenden in diesem Auto sind nicht die ersten, bei denen Eitelkeit den Verstand k.o. schlägt. 

„Entschuldigen Sie, es wäre mir wirklich wichtig, dass mein Hut mitkommt“, sagt er nun doch. Und blickt in die Kamera. 

„Hast du das? Hast du das?“, will der eine neben ihm wieder wissen.

Auch diesmal nickt die Frau. 

Ulfs Puls, Nacken und Atmung springen zurück auf Normal. Er wird jetzt liefern, was die brauchen. Je besser seine Perfomance, desto schneller sitzt er auf dem Balkon. „So einen Film zu drehen, ist mit Sonnenbrille sicher gar nicht so leicht“, scherzt er in Richtung Kamerafrau. Sogar der Fahrer schlägt begeistert mit der rechten Hand aufs Lenkrad und freut sich über den „wirklich schrägen Vogel“. 

„Na, konzentrieren sie sich mal besser auf die Straße“, sagt Ulf, der selbst keinen Führerschein hat. 

 

Am Dienstag danach steht er unversehrt wieder im Laden. 

Ein bisschen Smalltalk, ein paar Witzchen, dann haben ihn die Entführer auf einer Landstraße ausgesetzt. Kurz davor hat es noch einen kleinen Tumult mit diversen unflätigen Ausrufen gegeben. Richtig verstanden hat er ihr Problem nicht, aber wahrscheinlich war sein Portemonnaie zu leer und sein Handy zu unsmart. Egal, als die Schiebetür des Bullis aufging, haben sie ihm beides zurückgegeben.   

Er ist dann nach Jahren mal wieder per Anhalter gereist. Eine herrliche Fortbewegungsmethode. Nur ein paar Minuten Wartezeit in hübscher Umgebung, dann hat ihn eine zugewandte Bäuerin aufgesammelt, die Lamas züchtet. Nie hätte er gedacht, dass man mit dem getrockneten Kot der Tiere heizen kann.  

Als Lisa von ‚Lisa liest‘ genau zwei Wochen nach ihrem ersten Auftritt erneut auftaucht, ist er keineswegs überrascht. Im Gegenteil, er hat sie schon einen Tag früher erwartet. Sie gibt vor, ihm ihre erste Rezension zeigen zu wollen, die keine ist, sondern eher eine Zusammenfassung von Effi Briest. Immerhin, die Geschichte hat sie beeindruckt. Aber Ulf vermisst jegliches Bestreben zu ergründen. Als ob man die Nacherzählungen seiner Stammkundinnen veröffentlichen würde. 

Sie lacht ihn gleichbleibend freundlich an. 

Natürlich tut sie das, denkt er, sie hat ein schlechtes Gewissen. 

Ob er ein schönes Wochenende gehabt habe, will sie wissen. 

Frau Kästrich ist in ihrem Hinterzimmer beschäftigt, er muss also nicht diskret sein und sagt ja, obwohl sein Hut verlorengegangen sei. Aber das wisse sie ja sicher schon. Rechts und links von ihrer Nase ein kurzes Zucken. Er hat es genau gesehen. 

Sie guckt ihn fragend an. 

„Trüge man eine Maske, was auch aus anderen Gründen sinnvoll wäre, würde der Gesprächspartner länger im Glauben gelassen, dass man über schauspielerisches Talent verfügt“, lässt er sie wissen. 

Ihr Blick verrät, dass sie ihn nicht verstanden hat. „Hä? Was wollen sie von mir?“ 

Das ist keine schlechte Frage, findet er. Er hat sich das tatsächlich nicht genau überlegt. Allerdings möchte er weder mit Verteidigungseifer noch mit pampigen Antworten konfrontiert werden. „Nun stellen sie sich mal nicht dümmer, als sie sind. Und ihren Freunden können sie ebenfalls sagen, dass sie mehr Sherlock Holmes lesen sollten. Am besten Band eins. Eine Studie in Scharlachrot. Dann würden sie was von Deduktion verstehen und sich nicht so schnell verraten.“ Er ist jetzt in Fahrt.

Sie starrt ihn regungslos an. 

„Nun gefrieren sie mal nicht. Geben sie mir lieber ihr Smartphone.“ Er will sich endlich seinen Film angucken. 

Durch Erschrecken gehorsam beginnt sie, ihr Telefon mit absurd hoher Geschwindigkeit zu bearbeiten. 

„Auf zwei Sekunden kommt es mir nicht an“, sagt er.

„Ich habe nur geschrieben, dass sie ein schräger Boomer sind, das Gegenteil von gechillt, aber dafür ohne Hoodie und so was. Und dass sie vielleicht ein Zeitreisender sind. Ein Verwandter von Effi Briest oder so. So Sachen halt.“ Sie hält ihm das Telefon unter die Nase, auf dem er unter dem lila glitzernden Sternchenschriftzug Lisa liest die Überschrift Brillanter Buch-Boomer und eine Karikatur von ihm erkennt. Er ignoriert beides.

„Und der Film vom Kidnapping?“

„Was?“

„Die Entführung.“

„Ich weiß, was Kidnapping auf Deutsch heißt.“ 

 

Frau Kästrich kommt wieder durch ihren Vorhang.

Ulf hält inne, als ob er bei irgendwas ertappt worden wäre. 

Seine Chefin ist jedoch zu aufgewühlt, um das zu bemerken. „Haben sie das gesehen?“, fragt sie und wedelt mit der Lokalzeitung vor sich her, als ob sie dringend ein Taxi benötigen würde. „Die haben gestern Abend meinen alten Stammkunden, unseren Umweltdezernenten entführt. Den mit dem Hut. Ganz grün und blau haben sie ihn geschlagen, damit er mal spürt, wie sich der Planet fühlt. Und dann haben sie ihn einfach ausgesetzt.“