Tot? Echt jetzt? (eine Ulf-Story)
Ein aufdringliches Warum besetzt seine Gedanken wie ein leerstehendes Haus. Er stutzt, hat historische Bilder der Berliner Besetzer-Szene vor Augen: schwarz-weiße Fassadentransparente und Zottelköpfe mit an Fingern festgespeichelten Zigaretten.
Mein lieber Ulf, ermahnt er sich, du hast jetzt keine Zeit für Betrachtungen von Metaphern oder finessefreien Frisuren. Er nickt, mehr mit dem Hirn als mit dem Kopf, und quetscht doch noch schnell den Gedanken hinterher, dass er die Aktualisierung besetzt seine Gedanken wie ein/e festgeklebte/r Klimaaktivist/in auf keinen Fall in seinen Bilderschatz aufnehmen wird.
Das Warum insistiert. Das ist ihm unangenehm. Er ist kein Hinterfrager. Ulf nimmt wahr, was ist, ordnet ein, wie er es findet, und reist auf der Zeitachse nach rechts. Naturwissenschaftlich und in der Sesamstraße mag wieso, weshalb, warum Fortschritt bringen, menschlich hält er es für den erbärmlichen Versuch, schlechtes Verhalten verdaulicher zu machen.
Nichts anderes möchte die Frage in seinem Kopf.
In Anbetracht der Größe des aktuellen Geschehnisses, hält er das für statthaft. Ausnahmsweise. Ulf stirbt nämlich gerade. Eine Veränderung, für die er gemäß Durchschnittserwartung zu jung und zu wenig krank ist. Eher gar nicht krank. Kein Krebs, nichts mit dem Herzen. Nicht mal Corona. Nur mit Warzen hat er manchmal Ärger.
Trotzdem hat ihn sein Bewusstsein vor einigen Augenblicken wachgerüttelt. Es sei nun 13:32 und damit würde sein Leben enden. Hat es ihm wirklich die konkrete Zeit gesteckt? Er zweifelt, will auf den Wecker gucken, wozu er aber bereits zu steif ist. Egal, die Uhrzeit ist für die Sache selbst unwichtig, nicht mehr als ein bürokratisches Element des Sterbens.
Trotzdem: Warum? Und warum jetzt? Er ist gegen sechs Uhr morgens ins Bett gegangen, hat sich vorher diverse Biere und einige Gin Tonic von den Zähnen geputzt. Keine Drogen. Obwohl er aus war.
Ulf geht nicht oft feiern. Aber wenn, dann. Dann will er strahlen, Leute kennenlernen, reden, tanzen, singen, trinken, weiterstrahlen. Der pure Wille, sich zu amüsieren. Nach einer solchen Nacht ist sein Vorrat an Zugewandtheit aufgebraucht. Für Wochen. (Der an Sperma nur für ein paar Tage, aber das handelt er mit sich selbst aus.) Er bleibt dann zuhause, trinkt Tee oder raucht. Nicht gleichzeitig. Nacheinander. Zu rauchen reicht ihm für einen Moment. Er zieht, spürt seine Grübchen, unterbricht die Luftbewegung, um den Qualm im Brustkorb zur Ruhe kommen zu lassen, und atmet aus. Genuss geht nicht nebenher.
Mein lieber Ulf, ermahnt er sich ein zweites Mal, du darfst nicht ständig abschweifen, sonst bist du tot, bevor du fertig gedacht hast.
***
Irgendwann gestern Abend hieß der Blonde neben ihm Basti, was Ulf gewundert hat, weil der Mann so ausgewachsen war wie er selbst. Ob er Sebastian sagen dürfe, hat er ihn gefragt.
„Wenn du es schöner findest.“ Eltern und Großeltern täten es ihm gleich.
Noch während er sich darüber freute, dass auch andere dem allgegenwärtigen Infantilismus widerstehen, ist der Vollbart hinter Sebastian zusammengeklappt. Pupillen nach hinten, Kopf nach vorne, raus aus dem Blickfeld. Die meisten Gäste haben eine Weile gebraucht, um zu merken, dass sie panisch werden wollten. Die in der Nähe Stehenden waren da schon betriebsam. Stayin‘ alive! 112. 110? 112!
Ulf weiß, wie Tote aussehen. Er hat sie seziert. Und auch, wenn er jedes Mal aufgeatmet hat, wenn der Präpkurs vorbei war, hält er es generell für übertrieben, sich von unbekannten, wahrscheinlich lebenden Leichen den Abend verderben zu lassen.
Eine Minderheitenmeinung. Als der Mann abtransportiert war, standen sie nur noch zu siebt am Tresen. Auch Sebastian hatte der Schock fortgespült. Dabei war er so fröhlich gewesen. Ein Squashspieler mit schönen Zähnen und einer Begabung für präzise Antworten.
Eine halbe Stunde später war er mit all seinen Reizen wieder da und der Laden voll. Bei mir dauert Bestürzung länger, dachte Ulf. Und dass einem Abgang am Tresen etwas Erfülltes anhaftet.
***
Nicht wie bei ihm. Im Bett! Die Banalität stimmt ihn ärgerlich und der kleine Funke schlechter Laune fällt auf brennbaren Boden: Wo sind eigentlich die Bilder meines Lebens, meckert er. Man liest doch immer wieder, dass die an einem vorbeizeitraffern. Bei ihm gibt es nicht mal ein Polaroid. Von Kerzen ganz zu schweigen. Und von Musik. Wenn jetzt nicht sofort eine Orgel…
Bevor er sich weiter in ungute Gedanken steigern kann, kommt eine Frau auf ihn zu. Ohne zu klopfen, ohne zu klingeln, was er ein bisschen unverschämt findet. Dunkelblaues Kleid mit Gürtel in der Taille, schokoladenbraune Haare. Typ Annalena Baerbock. Immerhin sagt sie freundlich guten Tag.
„Na, sie hatte ich mir aber ganz anders vorgestellt.“
Sie lacht. „Männlich?“
„Wahrscheinlich auch das.“
„Den Sensemann will niemand gendern.“
Er sieht sie an. „Auch weniger ministerial.“
„Business, freitags auch mal business casual.“
„Holt mich Ernest & Young? Oder gar die FDP?“
Sie lacht erleichtert. „Wir machen das ehrenamtlich.“
„Was denn?“
„Sie zu fragen, ob sie bereit sind.“
„Man muss jeden Tag sterben können!“
„Ein kluges Lebensmotto.“
Er freut sich über das Lob. „Was würden sie machen, wenn ich nein gesagt hätte? Gehen sie dann nach nebenan?“
„Wir hätten hauptsächlich tote Nachbarn, wenn das möglich wäre. Aber vielleicht wollen sie noch ein wenig plaudern.“
„Als ob’s das letzte Mal wäre?“
„Es ist das letzte Mal. Und auch nur eine Frage. Unser Zeitmanagement ist straff.“
„Eine Frage zu stellen ist etwas anderes als zu plaudern.“
„Ja, entschuldigen sie. Wir agieren in einem Themenbereich voller Euphemismen.“
Ulf hätte mehr erwartet. Aber damit kann er sich jetzt nicht aufhalten. Was soll er fragen? Natürlich kommt ihm das Warum wieder in den Sinn. Aber dafür ist das hier nicht naturwissenschaftlich genug. Wo die Reise hingeht, wird er eh gleich sehen. Und irgendwie sieht die ehrenamtliche Annalena nicht so aus, als ob Wiedergeburt ihr Fachgebiet wäre.
Also wird es „kann ich noch eine rauchen?“. Feiern ist er ja erst gestern gewesen.
„Beneidenswert!“ Sie wirft ihm einen bewundernden Blick zu und verschwindet.
„Keine Antwort? Na, so haben wir nicht gewettet“, ruft er ihr, mehr Spaß als Sorge, hinterher und muss grinsen.
Komisch, dass sein Wecker noch gar nicht gepiept hat.